Cornelia B., 35 Jahre, Sekretärin, Biblothekarin,
stellvertretende Leiterin der Schülerfreizeitstätte Jena

Die kurze Zeit, in der ich mit „meinem“ Land schwanger ging, war eine wundervolle Zeit,
Freiheit im vollkommensten Sinne.

Als Kind habe ich das Lied: „Unsere Heimat“ gesungen. Die letzte Zeile:“weil sie unserem Volke gehört“, rührt mich erst heute, da ich mir bewußt bin, dem Volk gehört nichts mehr.

Volkseigentum das war doch nur eine Floskel, das haben wir wie eine Lektion gelernt. Aber gefühlt haben wir dabei nichts. Die Freude, der Stolz über diesen ideellen Wert blieben aus. Eine neue Jeans gaben mir mehr Motivation zum Leben, als die neue Maschine im PA-Unterricht. Ich habe es nie gespürt, Heimatliebe, egal ob zu einer Stadt oder einen Fleckchen Land.

Ich war beseelt vom Fernweh. Das war mein Opponieren gegen die starren Verhältnisse. Was war das für ein Vaterland, das nicht in der Lage war,seine Kinder den eigenen Weg suchen und gehen zu lassen? Warum wurde das Gängelband nicht abgelegt? Solche Fragen beherrschten mich und trieben mich in eine Situation, die Vaterlandsliebe unmöglich machte. Ich war nicht für ein besseres Land, sondern für bessere Bedingungen für mich.

Das hieß reisen können, Pazifist sein können, jazzen können. Als die Umweltkrise immer deutlicher wurde, schloß ich mich erstmals einer Gruppe an. Es ging darum, die Lebensqualität zu verbessern. Vor allem aber sollte mein Traum von einer späteren Weltreise nicht Fiktion bleiben. Das war mein Strohhalm. So kamen regionales und globales Denken zufällig zusammen.

Aber es kam noch mehr. Vor der Wende der zivile Ungehorsam, Verweigerung sooft wie möglich im gesellschaftlichen Raum. Während der Wende die Hoffnungen. Die waren so groß, daß sie Kräfte wuchsen ließen. Demos, Versammlungen, Reden halten, ein neues Gesellschaftsbild zusammenpuzzeln. Wer glaubte je von sich, daß er zu so etwas einmal fähig sein könnte. Der Körper, der Geist – alles ging über seine Grenzen hinaus. Es gab plötzlich keine Grenzen mehr und das in jeder Hinsicht.

Die Welt lag mir zu Füßen. Wie oft hatte ich mir diese Situation vorgestellt. Wie wird es mir in diesem Moment gehen; schreie ich, so eine Atr Frühlingsschrei der Ronja Räubertochter? Oder entkorke ich an Ort und Stelle sofort eine Flasche Sekt? Klischeehaftes Denken, keine Phantasie im Spiel für so eine phantastische Situation. Ich weiß noch genau, wie offen und fröhlich die Gesichter der Menschen auf der Straße waren, die Schleier, Gefühle beherrschten den Alltag. Vernunft, wer fragte nach ihr. Vernünftig waren wir über die Maßen hinaus zu lange.

Doch allen Gemütswallungen zum Trotz keimte in mir die Vorstellung von einem neuen Land. Es wurde ein Gebilde. Es bekam Hände und Füße, Kopf und Bauch. Ich liebte es schon vor seiner Geburt, weil es aus mir selbst kam. Es war ein Kind, ganz von mir gewollt. Nicht mir sollte es gehören, sondern ich ihm. Oder noch besser, wir gehören uns, sind Partner im Nehmen und Geben und im Verstehen. Dies Land sollte keine Totgeburt werden, es wurde zur Abtreibung. Von den eigenen Leuten, ganz legitim, den Paragraphen 218 gab es noch nicht.

Die kurze Zeit, in der ich mit „meinem“ Land schwanger ging, war eine wundervolle Zeit, Freiheit im vollkommensten Sinne. Ich habe alles für mich Machbare ausprobiert. Auch grenzenlos war meine Kraft, ging es darum, dem ökologischen Holocaust etwas entgegenzusetzen. Diese Kraft kam ganz aus mir, aus den Gedanken an das kommende Etwas, das auch wieder Deutsch heißen wird, aber so ganz anders sein würde, als seine Vorgänger, die aus einem anderen Schoß gekommen waren.

März 1991