Volker H., 26 Jahre, Dipl.-Ing., arbeitslos
„Ob die Menschen wirklich so miserabel sind, wie sie sich selbst gerne eingestehen, um die Suche nach einer gerechten Ordnung Traumtänzerei zu nennen, das weiß ich nicht.“
Als Junge hatte ich viele Träume. Mir war bewußt, daß diese Träume nie Realität werden konnten. Irgendwie fühlte ich Unbehagen bei dem Gedanken, auch einmal die Rolle des Erwachsenen spielen zu müssen. Es war schwer für mich sich vorzustellen, daß man als Erwachsener seine Kindheits- und Jugendträume endgültig beiseite wird legen müssen. Ich hatte mir damals vorgenommen, nie zu vergessen wie das war, ein Kind zu sein. Unbegreiflich blieb für mich stets weshalb die großen Jungs aus der siebten Klasse die kleinen Jungs aus der zweiten Klasse verprügelten. Wenn man doch genau weiß, wie unangenehm es ist, verprügelt zu werden, warum macht man es dann mit denen, die eben noch sind, was man gerade war. Ich nahm mir vor, das auch bei mir selbst nie zu vergessen. Der spätere Volker sollte nie den kleinen Volker als den grünen dummen Jungen hinstellen dürfen. Wenn ich heute daran denke, wie viele Bücher ich damals las, beim Schein der Nachttischlampe, immer der „Gefahr“ ausgesetzt durch die Eltern entdeckt zu werden, dann bin ich sehr weit entfernt davon, mein damaliges Ich zu verleumden.
Man könnte annehmen die ideologische Enge und räumliche Begrenztheit in der früheren DDR müßten unausweichlich Spuren hinterlassen haben. Mag sein, daß es da irgendeiner Form etwas bei mir gibt. Doch merkwürdigerweise kam gerade seit dem November 1989 bei mir sehr oft ein Gefühl der Überlegenheit auf, wenn ich Westdeutsche kennenlernte. Dieses Gefühl ist sehr schwer beschreiblich, mag auch sein, daß es meinem Gegenüber genauso gegangen ist. Es bezog sich auf Dinge, die mir wichtig sind. Um nicht in die üblichen Klischees von den bescheidenen Ossis und den weltmännischen Wessis zu verfallen, gebe ich zu, daß man bewußt nach einem Anderssein sucht, vielleicht bemüht seine eigenen Schwächen durch die des anderen aufzuwiegen. Diese Mauer
im Kopf gibt es bei mir. Ich sage mir zwar, jeder ist zuerst Mensch, egal ob Frau oder Mann, Ossi oder Wessi – aber das vergesse ich eben manchmal.
Was habe ich denn während der ganzen Jahre des faulenden und sterbenden Sozialismus gemacht, was mich berechtigt Überlegenheit zu spüren? So paradox wie es klingt, aber ich bin froh im Osten aufgewachsen zu sein. Wozu sage ich das eigentlich? Jeder ist froh dort oder dort aufgewachsen zu sein. Was soll das, bin ich etwa auch stolz darauf, das Pionierhalstuch getragen zu haben, oder bei FDJ-Pfingstreffen dabeigewesen zu sein? Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ich tatsächlich maßlos stolz war, mein blaues Halstuch gegen ein rotes einzutauschen, vom Jungpionier zum Thälmannpionier befördert zu werden. Es war genau die Zeit, zu der wir die Besten beim Altstoffsammeln waren. Mit Begeisterung zog eine kleine Gruppe von Pionieren durch die Häuser. Es war eine gute Gemeinschaft, es hat Spaß gemacht, daran ist jetzt nichts mehr zu ändern.
Ich weiß nicht, ob in den siebziger Jahren, während meiner Schulzeit, unter jeder Schulbank eine Stasiwanze befestigt war, ich kann mich nur noch erinnern, daß, als es mit dem Staatsbürgerkundeunterricht losging zwar flotte Sprüche vom Sieg des Kommunismus geklopft wurden, aber ich konnte sehr gut Staatsideologie von der Idee einer Gesellschaft ohne Gegeneinander (so interpretierte ich den Kommunismus) unterscheiden. Ich mußte deshalb auch nicht immer widersprechen wenn es um allgemeine Thesen ging, wo ich widersprach passierte mir nichts. Das füge ich nur ein, um plausibel zu machen, warum ich mich nicht durch einen ständig verbotenen Mund eingeengt fühlte. Am Abend setzte ich mich hin, ließ den Alltag an mir abfallen und reiste in meine Urzeit. Ich hatte mit zwölf angefangen einen Roman zu schreiben. In ihm spiegelten sich alle meine Träume wider. Nebenbei bastelte ich Flugzeuge oder Schiffe, womit sich ein Junge eben so beschäftigt. Aber mein Roman war die Hauptsache. Abend für Abend saß ich da und schrieb und las meinen Geschwistern vor. Das ging über Jahre. Vielleicht war das meine Nische in die ich fliehen mußte um dem unangenehmen gesellschaftlichen Alltag zu entgehen. Damals habe ich das nicht so empfunden und ich glaube über längere Zeit kann man aus bloßem Mangel an Freiheit einen solchen Roman gar nicht schreiben. Im Gegenteil, ich wäre froh, wenn ich heute so etwas tun würde, tun könnte. Etwas zu schreiben und den anderen mitzuteilen bedeutet miteinander leben. Wie lange ist es her, daß ich ein Gedicht schrieb oder ein Bild malte. Es ist eigenartig, daß sich die Beschränkung der Möglichkeiten nicht gleichermaßen auf das wirkliche Leben auswirken muß. Für mich ist das wirkliche Leben nicht nur die Reihenfolge offensichtlicher Realitäten. Der Inhalt eines Gespräches ist doch nichts zum anfassen, das Erleben eines Ereignisses ist nur soviel Wirklichkeit als ich ihm gebe. Ein gutes Gespräch zu führen oder intensiv zu erleben, beides ist mir seit dem Umbruch schwerer gefallen. Ich übe es nicht mehr. Zu viele neue Dinge machen sich Platz im Kopf. Leider habe ich noch nicht das Gefühl, dadurch meinem Menschsein näher zu kommen. Das ist schade. Man hat alle Möglichkeiten. Niemand sagt mehr, was zu tun ist. War es wirklich nur das Opponieren gegen ein System, das Streben nach Anderssein, nach unbedingtem Anderssein, was mich dazu bewog dies alles zu tun: zu schreiben, zu lesen, zu malen, zu reden, zu reisen. Ich hoffe nicht. Ich habe aber den Verdacht, daß diese Dinge im neuen alten System vielmehr als vorher spielerisches Beiwerk des Lebens sein sollen, weil damit ohnehin kein Geld zu machen ist. Und wer will sich gerade jetzt mit weniger Geld zufrieden geben. Wenn ich nicht clever genug bin, muß ich mich letztendlich doch mit einem Kompromiß zufrieden geben, muß mein Geld auf Arbeit verdienen und nebenbei das andere tun, um ich zu sein. Das ist Anpassen an gesellschaftliche Realität. Wie kommt es nur, daß ich mein Unbehagen vor dieser Halbherzigkeit nicht überwinden kann? Sind dies immer noch meine phantastischen Träume von einer Reise zu etwas unmöglichem, von dem ich selbst nicht genau weiß was es ist?
Ich glaube nicht, daß es unbedingt typisch für dieses gerade erst abgeschaffte System war, mehr Träume und weniger machbare Realität zu produzieren. Mag sein, daß man sich jetzt viele Wünsche erfüllen kann, daran gewöhnt man sich, aber wir Menschen sind nicht automatisch besser geworden. Mit dem, was man sich jetzt kaufen kann, muß man etwas sinnvolles anfangen, sonst bleibt es Selbstzweck. Das war vorher genauso. Ich merkte das zum Beispiel als ich mir einen neuen Fotoapparat anschaffte, den ich gegen meine alte Practika eintauschte. Ich glaubte nun, besser fotografieren zu können. Aber am Prinzip des Fotografierens hatte sich nichts geändert. Ich bin kein besserer Fotograf geworden. Vielleicht ist das der Irrtum, dem man gerne unterliegt. Wir denken jetzt, da wir ein neues Auto haben, wird die Urlaubsreise interessanter; jetzt, wo der Mikrowellengrill da ist schmeckt das Essen besser; wenn man das Fernsehen per Video intensiviert, sind die Abende interessanter. Kann sein, daß dies die Überlegenheit ist von der ich am Anfang sprach, daß dies die moralische Überlegenheit gegenüber demjenigen ist, der denkt, durch seine besseren materiellen Hilfsmittel ein besserer Mensch zu sein. Ehrlich gesagt habe ich so etwas bei mir selbst schon bemerkt. Warum sonst überrascht einen die Leistung alter Kulturen oder fremder Völker sosehr. Man setzt primitive Mittel mit primitivem Denken gleich. Dasselbe passiert dem Westen mit dem Osten, den Jungen mit den Alten, den Weißen mit den Schwarzen. Nun, da ich den entwickelten Kapitalismus kennenlerne, bin ich fast erstaunt, wie wenig materiell technischer Fortschritt mit der Entwicklung des Menschen an sich zu tun hat. Ich hatte noch nie das Glück, dieses Phänomen umgekehrt an einem Negerstamm zu bewundern.
Mein Bruder sagte neulich, daß es ein größeres Glück sei, durch diese Brücke zu fahren, als vor der Mauer zu stehen und nur davon zu träumen. Das stimmt. Jetzt, wo von Pankow aus die Wollankstraße wieder in den Wedding führt, ist es besser. Niemand wird solchen verlorengegangenen Träumen nachtrauern. Schon als Kind stand ich fassungslos vor der Mauer und wünschte mir, sie überwinden zu können. Im Schlaf sah ich mich darüberfliegen oder unsichtbar durch die Grenzanlagen schleichen, einmal beim Spielen entdeckte ich einen Geheimtunnel, der mir Zutritt zur anderen Welt verschaffte. Ich kann mich nicht erinnern, den Tag ähnlich bildhaft geträumt zu haben, an dem die Mauer fallen würde. Vielmehr bezog ich die Teilung der Stadt auf mich selbst. Warum wird es gerade mir vorenthalten, das Wunderland um die Ecke zu besuchen, gerade mir, der doch nur einmal gucken will, nichts weiter. Ich könnte dann den anderen von den Wundern erzählen, die ich gesehen hatte. Man würde mich beneiden, ich hätte den Hauch von etwas besonderem, von jemandem der nicht zur Masse gehörte. Die Sehnsucht nach dem Westen, nach der Welt, wurde zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von diesem Gedanken genährt. Der damalige Wunsch, nach Paris, London, Tokio oder New York zu reisen, wirkt heute grotesk vor den nstrengungen, die ich unternehme, um diesen in greifbare Nähe gerückten Traum tatsächlich zu verwirklichen.
Ist ein Traum wirklich nichts mehr wert, wenn er plötzlich Aussicht auf Verwirklichung hat? Kommt die Erfüllung ganz plötzlich, so wie der Fall der Mauer, gibt es tatsächlich einen Rausch, vergleichbar einem Fluß, der einen Wasserfall hinabgeht. Danach mündet der Fluß im Meer und vermischt sich mit ihm. Die Wünsche verlieren ihre klare Richtung. Die naiven Träume vom Reisen in ferne Länder sind keine echten Träume mehr und die neuen beschränken sich erstmal auf den Traum vom großen Geld. Jedenfalls denke ich jetzt oft daran, wie schön es wäre Millionär zu sein. Das ist mir früher nicht passiert. Vielleicht muß man jetzt um zu bestehen, dieses ganze Meer in einen einzigen großen Fluß verwandeln. Was vorher in der diffusen Vielfalt bestand, dies bunte Durcheinander unbestimmter Vorstellungen, das muß man nun einem einzigen Ziel widmen. Man muß eine Vorstellung von seiner beruflichen Karriere haben, man muß zuallererst was verdienen, seine Kraft konzentrieren, sich entscheiden.
Das fällt mir nicht leicht. Mir gelingt es nicht, meine Wünsche schnellstens so auszurichten, daß ich mit dem daraus entspringenden Willen etwas zu ihrer Erfüllung tun kann, was genau den Möglichkeiten dieser Gesellschaft entspricht. Meine Vorstellungen von Glück, von einer gerechten Gesellschaft, von einer harmonischen Umwelt sind irgendwann einmal dem Glauben entsprungen, man könnte aus dem sogenannten Sozialismus einen wirklichen Sozialismus machen. Ich hatte meine Visionen nie darauf vorbereitet, einmal im Kapitalismus ihre Verwirklichung finden zu müssen. Ich glaubte tatsächlich diesem System gehört nicht die wirklich Zukunft. Deshalb kam ich nie auf den Gedanken mir für den Fall der Fälle es käme morgen wieder Kapitalismus, eine Wünschekonserve zuzulegen, der ich dann ohne Probleme die Umstellungskost entnehmen könnte. Der Osten hat womöglich noch viele solche unverbesserlichen Träumer erzeugt wie mich. Wir müssen nun umdenken, so sagt man oft. Wer darf so etwas sagen? Diejenigen, die schon immer das richtige dachten, oder die, welche es eben mit Hilfe des Westens gelernt haben, das richtige zu denken? Ich wundere mich oft über die Arroganz und Selbstzufriedenheit mit der dies vom Westen verlangt wird. Natürlich nicht immer. Aber ich vermisse das gemeinsame Bestreben w e i t e r zu denken.
Ob die Menschen wirklich so miserabel sind, wie sie sich selbst gerne eingestehen, um die Suche nach einer gerechten Ordnung Traumtänzerei zu nennen, das weiß ich nicht. Nie vergessen werde ich den 4.November 1989 als die Menschen in Berlin auf dem Alex standen und vom Aufbau einer besseren Gesellschaft sprachen. Wie auch immer, ich hatte dort das Gefühl, sie meinten es ernst. Sie schienen eins mit dieser Idee und sei es nur für kurze Zeit.
März 1991
Man könnte annehmen die ideologische Enge und räumliche Begrenztheit in der früheren DDR müßten unausweichlich Spuren hinterlassen haben. Mag sein, daß es da irgendeiner Form etwas bei mir gibt. Doch merkwürdigerweise kam gerade seit dem November 1989 bei mir sehr oft ein Gefühl der Überlegenheit auf, wenn ich Westdeutsche kennenlernte. Dieses Gefühl ist sehr schwer beschreiblich, mag auch sein, daß es meinem Gegenüber genauso gegangen ist. Es bezog sich auf Dinge, die mir wichtig sind. Um nicht in die üblichen Klischees von den bescheidenen Ossis und den weltmännischen Wessis zu verfallen, gebe ich zu, daß man bewußt nach einem Anderssein sucht, vielleicht bemüht seine eigenen Schwächen durch die des anderen aufzuwiegen. Diese Mauer
im Kopf gibt es bei mir. Ich sage mir zwar, jeder ist zuerst Mensch, egal ob Frau oder Mann, Ossi oder Wessi – aber das vergesse ich eben manchmal.
Was habe ich denn während der ganzen Jahre des faulenden und sterbenden Sozialismus gemacht, was mich berechtigt Überlegenheit zu spüren? So paradox wie es klingt, aber ich bin froh im Osten aufgewachsen zu sein. Wozu sage ich das eigentlich? Jeder ist froh dort oder dort aufgewachsen zu sein. Was soll das, bin ich etwa auch stolz darauf, das Pionierhalstuch getragen zu haben, oder bei FDJ-Pfingstreffen dabeigewesen zu sein? Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ich tatsächlich maßlos stolz war, mein blaues Halstuch gegen ein rotes einzutauschen, vom Jungpionier zum Thälmannpionier befördert zu werden. Es war genau die Zeit, zu der wir die Besten beim Altstoffsammeln waren. Mit Begeisterung zog eine kleine Gruppe von Pionieren durch die Häuser. Es war eine gute Gemeinschaft, es hat Spaß gemacht, daran ist jetzt nichts mehr zu ändern.
Ich weiß nicht, ob in den siebziger Jahren, während meiner Schulzeit, unter jeder Schulbank eine Stasiwanze befestigt war, ich kann mich nur noch erinnern, daß, als es mit dem Staatsbürgerkundeunterricht losging zwar flotte Sprüche vom Sieg des Kommunismus geklopft wurden, aber ich konnte sehr gut Staatsideologie von der Idee einer Gesellschaft ohne Gegeneinander (so interpretierte ich den Kommunismus) unterscheiden. Ich mußte deshalb auch nicht immer widersprechen wenn es um allgemeine Thesen ging, wo ich widersprach passierte mir nichts. Das füge ich nur ein, um plausibel zu machen, warum ich mich nicht durch einen ständig verbotenen Mund eingeengt fühlte. Am Abend setzte ich mich hin, ließ den Alltag an mir abfallen und reiste in meine Urzeit. Ich hatte mit zwölf angefangen einen Roman zu schreiben. In ihm spiegelten sich alle meine Träume wider. Nebenbei bastelte ich Flugzeuge oder Schiffe, womit sich ein Junge eben so beschäftigt. Aber mein Roman war die Hauptsache. Abend für Abend saß ich da und schrieb und las meinen Geschwistern vor. Das ging über Jahre. Vielleicht war das meine Nische in die ich fliehen mußte um dem unangenehmen gesellschaftlichen Alltag zu entgehen. Damals habe ich das nicht so empfunden und ich glaube über längere Zeit kann man aus bloßem Mangel an Freiheit einen solchen Roman gar nicht schreiben. Im Gegenteil, ich wäre froh, wenn ich heute so etwas tun würde, tun könnte. Etwas zu schreiben und den anderen mitzuteilen bedeutet miteinander leben. Wie lange ist es her, daß ich ein Gedicht schrieb oder ein Bild malte. Es ist eigenartig, daß sich die Beschränkung der Möglichkeiten nicht gleichermaßen auf das wirkliche Leben auswirken muß. Für mich ist das wirkliche Leben nicht nur die Reihenfolge offensichtlicher Realitäten. Der Inhalt eines Gespräches ist doch nichts zum anfassen, das Erleben eines Ereignisses ist nur soviel Wirklichkeit als ich ihm gebe. Ein gutes Gespräch zu führen oder intensiv zu erleben, beides ist mir seit dem Umbruch schwerer gefallen. Ich übe es nicht mehr. Zu viele neue Dinge machen sich Platz im Kopf. Leider habe ich noch nicht das Gefühl, dadurch meinem Menschsein näher zu kommen. Das ist schade. Man hat alle Möglichkeiten. Niemand sagt mehr, was zu tun ist. War es wirklich nur das Opponieren gegen ein System, das Streben nach Anderssein, nach unbedingtem Anderssein, was mich dazu bewog dies alles zu tun: zu schreiben, zu lesen, zu malen, zu reden, zu reisen. Ich hoffe nicht. Ich habe aber den Verdacht, daß diese Dinge im neuen alten System vielmehr als vorher spielerisches Beiwerk des Lebens sein sollen, weil damit ohnehin kein Geld zu machen ist. Und wer will sich gerade jetzt mit weniger Geld zufrieden geben. Wenn ich nicht clever genug bin, muß ich mich letztendlich doch mit einem Kompromiß zufrieden geben, muß mein Geld auf Arbeit verdienen und nebenbei das andere tun, um ich zu sein. Das ist Anpassen an gesellschaftliche Realität. Wie kommt es nur, daß ich mein Unbehagen vor dieser Halbherzigkeit nicht überwinden kann? Sind dies immer noch meine phantastischen Träume von einer Reise zu etwas unmöglichem, von dem ich selbst nicht genau weiß was es ist?
Ich glaube nicht, daß es unbedingt typisch für dieses gerade erst abgeschaffte System war, mehr Träume und weniger machbare Realität zu produzieren. Mag sein, daß man sich jetzt viele Wünsche erfüllen kann, daran gewöhnt man sich, aber wir Menschen sind nicht automatisch besser geworden. Mit dem, was man sich jetzt kaufen kann, muß man etwas sinnvolles anfangen, sonst bleibt es Selbstzweck. Das war vorher genauso. Ich merkte das zum Beispiel als ich mir einen neuen Fotoapparat anschaffte, den ich gegen meine alte Practika eintauschte. Ich glaubte nun, besser fotografieren zu können. Aber am Prinzip des Fotografierens hatte sich nichts geändert. Ich bin kein besserer Fotograf geworden. Vielleicht ist das der Irrtum, dem man gerne unterliegt. Wir denken jetzt, da wir ein neues Auto haben, wird die Urlaubsreise interessanter; jetzt, wo der Mikrowellengrill da ist schmeckt das Essen besser; wenn man das Fernsehen per Video intensiviert, sind die Abende interessanter. Kann sein, daß dies die Überlegenheit ist von der ich am Anfang sprach, daß dies die moralische Überlegenheit gegenüber demjenigen ist, der denkt, durch seine besseren materiellen Hilfsmittel ein besserer Mensch zu sein. Ehrlich gesagt habe ich so etwas bei mir selbst schon bemerkt. Warum sonst überrascht einen die Leistung alter Kulturen oder fremder Völker sosehr. Man setzt primitive Mittel mit primitivem Denken gleich. Dasselbe passiert dem Westen mit dem Osten, den Jungen mit den Alten, den Weißen mit den Schwarzen. Nun, da ich den entwickelten Kapitalismus kennenlerne, bin ich fast erstaunt, wie wenig materiell technischer Fortschritt mit der Entwicklung des Menschen an sich zu tun hat. Ich hatte noch nie das Glück, dieses Phänomen umgekehrt an einem Negerstamm zu bewundern.
Mein Bruder sagte neulich, daß es ein größeres Glück sei, durch diese Brücke zu fahren, als vor der Mauer zu stehen und nur davon zu träumen. Das stimmt. Jetzt, wo von Pankow aus die Wollankstraße wieder in den Wedding führt, ist es besser. Niemand wird solchen verlorengegangenen Träumen nachtrauern. Schon als Kind stand ich fassungslos vor der Mauer und wünschte mir, sie überwinden zu können. Im Schlaf sah ich mich darüberfliegen oder unsichtbar durch die Grenzanlagen schleichen, einmal beim Spielen entdeckte ich einen Geheimtunnel, der mir Zutritt zur anderen Welt verschaffte. Ich kann mich nicht erinnern, den Tag ähnlich bildhaft geträumt zu haben, an dem die Mauer fallen würde. Vielmehr bezog ich die Teilung der Stadt auf mich selbst. Warum wird es gerade mir vorenthalten, das Wunderland um die Ecke zu besuchen, gerade mir, der doch nur einmal gucken will, nichts weiter. Ich könnte dann den anderen von den Wundern erzählen, die ich gesehen hatte. Man würde mich beneiden, ich hätte den Hauch von etwas besonderem, von jemandem der nicht zur Masse gehörte. Die Sehnsucht nach dem Westen, nach der Welt, wurde zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von diesem Gedanken genährt. Der damalige Wunsch, nach Paris, London, Tokio oder New York zu reisen, wirkt heute grotesk vor den nstrengungen, die ich unternehme, um diesen in greifbare Nähe gerückten Traum tatsächlich zu verwirklichen.
Ist ein Traum wirklich nichts mehr wert, wenn er plötzlich Aussicht auf Verwirklichung hat? Kommt die Erfüllung ganz plötzlich, so wie der Fall der Mauer, gibt es tatsächlich einen Rausch, vergleichbar einem Fluß, der einen Wasserfall hinabgeht. Danach mündet der Fluß im Meer und vermischt sich mit ihm. Die Wünsche verlieren ihre klare Richtung. Die naiven Träume vom Reisen in ferne Länder sind keine echten Träume mehr und die neuen beschränken sich erstmal auf den Traum vom großen Geld. Jedenfalls denke ich jetzt oft daran, wie schön es wäre Millionär zu sein. Das ist mir früher nicht passiert. Vielleicht muß man jetzt um zu bestehen, dieses ganze Meer in einen einzigen großen Fluß verwandeln. Was vorher in der diffusen Vielfalt bestand, dies bunte Durcheinander unbestimmter Vorstellungen, das muß man nun einem einzigen Ziel widmen. Man muß eine Vorstellung von seiner beruflichen Karriere haben, man muß zuallererst was verdienen, seine Kraft konzentrieren, sich entscheiden.
Das fällt mir nicht leicht. Mir gelingt es nicht, meine Wünsche schnellstens so auszurichten, daß ich mit dem daraus entspringenden Willen etwas zu ihrer Erfüllung tun kann, was genau den Möglichkeiten dieser Gesellschaft entspricht. Meine Vorstellungen von Glück, von einer gerechten Gesellschaft, von einer harmonischen Umwelt sind irgendwann einmal dem Glauben entsprungen, man könnte aus dem sogenannten Sozialismus einen wirklichen Sozialismus machen. Ich hatte meine Visionen nie darauf vorbereitet, einmal im Kapitalismus ihre Verwirklichung finden zu müssen. Ich glaubte tatsächlich diesem System gehört nicht die wirklich Zukunft. Deshalb kam ich nie auf den Gedanken mir für den Fall der Fälle es käme morgen wieder Kapitalismus, eine Wünschekonserve zuzulegen, der ich dann ohne Probleme die Umstellungskost entnehmen könnte. Der Osten hat womöglich noch viele solche unverbesserlichen Träumer erzeugt wie mich. Wir müssen nun umdenken, so sagt man oft. Wer darf so etwas sagen? Diejenigen, die schon immer das richtige dachten, oder die, welche es eben mit Hilfe des Westens gelernt haben, das richtige zu denken? Ich wundere mich oft über die Arroganz und Selbstzufriedenheit mit der dies vom Westen verlangt wird. Natürlich nicht immer. Aber ich vermisse das gemeinsame Bestreben w e i t e r zu denken.
Ob die Menschen wirklich so miserabel sind, wie sie sich selbst gerne eingestehen, um die Suche nach einer gerechten Ordnung Traumtänzerei zu nennen, das weiß ich nicht. Nie vergessen werde ich den 4.November 1989 als die Menschen in Berlin auf dem Alex standen und vom Aufbau einer besseren Gesellschaft sprachen. Wie auch immer, ich hatte dort das Gefühl, sie meinten es ernst. Sie schienen eins mit dieser Idee und sei es nur für kurze Zeit.
März 1991